Der Mängelmelder in Pinneberg – Digitalisierung ganzheitlich gedacht.

Knapp drei Jahre arbeiten wir jetzt an der Digitalisierung in Deutschland mit, im Dezember endet die erste Etappe: das Online-Zugangsgesetz (OZG) läuft aus. Das OZG 2.0 ist bereits in Planung. Vorab wollen wir beim ITV.SH denen eine Bühne geben, die das OZG leben, die öffentliche Infrastruktur im Alltag stemmen und trotz gegebener Widrigkeiten das OZG sogar punktuell übertreffen: Städte, Kommunen und Gemeinden. Deshalb starten wir eine offene Reihe, die den Maschinenraum kommunaler Verwaltung in Schleswig-Holstein zeigt: Was Technologie dort bewirken kann und welche Learnings diejenigen gemacht haben, die sie einsetzen. Für unseren ersten Beitrag haben wir dafür mit Stefan Bohlen, gesprochen. Er ist Erster Stadtrat der Stadt Pinneberg, u.a. verantwortlich für die Digitalisierung der Stadtverwaltung, war bereits bei der Gründungsversammlung des ITV.SH dabei und ist Mitglied unseres Fachbeirats

Wie viele Kommunen arbeiten Stefan Bohlen und seine Kolleg:innen mit neuen Formaten im kommunalen Alltag: hybride Beteiligungsworkshops wie für das Smart City-Konzept der Stadt, interaktive Ausstellungen im Rathaus sowie Online-Umfragen wie für die Neugestaltung einer innerstädtischen Parkanlage. Als 2021 unsere Anfrage vom ITV.SH kam, Pinneberg zur Pilotkommune für den Mängelmelder zu machen – neben dem Amt Hüttener Berge und dem Kreis Rendsburg-Eckernförde – hat er, Erster Stadtrat der Stadt Pinneberg, nicht gezögert. Auch sein Team sei sofort dabei gewesen, sagt er. Der Pilot-Case des Mängelmelders zeigt aus unserer Sicht exemplarisch, wie tief Technologie in den Arbeitsalltag von Kommunen hineinreicht, und wie weit Digitalisierung über unseren alltäglichen Begriff einer App hinausgeht.

Der Mängelmelder ist ein kostenloses Angebot des ITV.SH

Sprechen Sie uns gerne an, wenn Sie den Mängelmelder nutzen möchten.

Getestet und für gut befunden

Gemeinsam mit Stefan Bohlen und seinen Kolleg:innen aus anderen Kommunen ist in drei Konzeptionsworkshops eine Meldeinfrastruktur entstanden, die heute Städte und Gemeinden in ganz Schleswig-Holstein einsetzen können. Ein Leitgedanke, mit dem der 39-Jährige auch sein Engagement beim ITV.SH begründet: „Wir wollen nichts entwickeln oder umsetzen, dass niemand nachnutzen kann.“ Der Online-Dienst, also die Mängelmelder-App und ihre Features, sind dabei das Fenster zur Digitalisierung für Bürger:innen. Dahinter liegt der Maschinenraum der kommunalen Digitalisierung, das Backoffice, indem die eingegangene Meldung verarbeitet wird. Hier entscheidet sich, ob und wie gut Dienste erbracht werden können. Entscheidend für den Mängelmelder war, dass dieses Backoffice, also der gesamte Hintergrund modular und adaptierbar aufgebaut werden kann. „Wir konnten ganz individuell festlegen, wie eine Meldung bearbeitet wird, also die Kategorien, die Organisationseinheiten, die Workflows und die Mitarbeitenden, die es nutzen.“ Die mit der Firma leanact aus Braunschweig entwickelte Software beantwortet eingehende Meldungen automatisch vorab, leitet sie an den zuständigen Bereich weiter und priorisiert sie, wie Stefan Bohlen erklärt: „Ein Ampelausfall geht natürlich vor einem kaputten Mülleimer, ein Stromausfall wiederum wäre wichtiger als ein Ampelausfall.“

Vor dem Start des Projekts, sagt Stefan Bohlen, habe es durchaus auch ein paar Sorgen gegeben. „Einige haben sich gefragt ‚Was kommt da auf uns zu?‘ zum Beispiel an Schulungsaufwand, ‚Können wir das neben unserer Arbeit überhaupt bewältigen?‘“ Zerstreut wurden die Bedenken durch die Einfachheit des Systems, erklärt er: „Nach einem Vormittag mit fünf Stunden Schulung ging es gleich ins Doing.“ Die Einführung Anfang 2022 ist gleich ein guter Belastungstest gewesen. „Zu Beginn gab es einen gewissen Hype. In den ersten zwei Monaten haben wir bis zu 30 Meldungen am Tag erhalten“, erinnert sich der Erste Stadtrat. Das hat sich in der Zwischenzeit normalisiert, heute sind es maximal 4-5 Meldungen pro Tag, zwei Drittel kommen über die App, ein Drittel über die Homepage. Es werden aber längst nicht nur Mängel gemeldet, sondern auch Verbesserungsvorschläge. „Das war uns sehr wichtig, dass nicht nur Mängel eingereicht werden, sondern Bürger:innen aktiv an der Gestaltung der Stadt mitwirken können. Deswegen nennen wir den Dienst auch nicht ‚Mängelmelder‘, sondern ‚Hinweisgeber‘“, erklärt Stefan Bohlen.

Bürgerbeteiligung neu gedacht.

Die Bürgerbeteiligung im Alltag habe die Erwartungen der Verwaltung zum Teil übertroffen. „Im Bereich Straßenbau und Verkehr haben meine Mitarbeitenden festgestellt, das Bürgerinnen und Bürger die Wegewarte bei ihrer Arbeit unterstützt haben, indem z.B. ganz viele Schlaglöcher und Wurzelaufbrüche mit Fotos, Koordinaten und Beschreibungen dokumentiert wurden.“ Entscheidend sei das auch bei wild abgelegtem Müll, wenn es sich um Sondermüll handelt, da zähle der Zeitfaktor: „Anfang des Jahres hat zum Beispiel irgendjemand rund 300 gefrorene Hähnchenkeulen einfach im Wald abgekippt, ein anderes Mal wurde eine LKW-Ladung Bauschutt im Naturschutzgebiet abgeladen.“ Auch durch andere Hinweise, die gemeldet werden – wie zugeschüttete Entwässerungsgräben – kann das Rathaus-Team größere Schäden verhindern.

Ein weiteres Ergebnis für Stefan Bohlen und das Team im Ideen- und Beschwerdemanagement ist, dass alle im Team den Bürger:innen jederzeit genaue Auskunft geben können. Im Back-Office des Mängelmelders können die Mitarbeitenden sehen, wo und bei wem der Vorgang liegt, wie der Sachstand ist, ob es bereits mehrere Hinweise zu der Sache gegeben hat bzw. das Problem immer wieder auftaucht. So werden auch neuralgische Punkte in der Kommune sichtbar.

Digitalisierung – zu 80 Prozent Organisation, Umdenken, Kulturwandel.

Weder im OZG noch von Stefan Bohlen vorgesehen war, wie seine Kolleg:innen die Infrastruktur des Mängelmelders für andere Bereiche nutzen würden. Diese Möglichkeit geht zurück auf die Pilotphase des Projekts: In den Konzeptionsworkshops, die wir mit Stefan Bohlen und seinem Team durchgeführt haben, kristallisierte sich als eine Anforderung heraus, dass die Anwendung auch für geschlossene Kommunikationskreise genutzt werden kann. „Die Kollegen und Kolleginnen fanden das System des Mängelmelders so gut, weil es auch die Möglichkeit gibt, mobile Endgeräte als interne Geräte zu klassifizieren, also ohne, dass die Meldung öffentlich wird.“ Heute organisieren die Mitarbeitenden des Grünflächenmanagements vom Kommunalen Servicebetrieb Pinneberg anfallende interne Aufgaben mit dem System über iPad und Mobiltelefone. Das Team des Ideen- und Beschwerdemanagements hat die Technologie des Mängelmelders konfiguriert, um Tickets für das Grünflächenmanagement, Wegewart-Arbeiten und Straßenkontrolle zu vergeben.

Die wertvollste Erfahrung für das Team der Stadt Pinneberg im Zuge der Digitalisierung ist die Zusammenarbeit mehrerer Kommunen untereinander, auch bundesweit: „Wir haben uns beispielsweise per Videokonferenz mit Kolleg:innen in Baden-Württemberg ausgetauscht, die an einem ähnlichen Punkt standen und dadurch tolle Sparringspartner waren“, so Stefan Bohlen. Wie in den meisten Kommunen deutschlandweit mangelt es nicht an Engagement und Tatkraft, auch Stefan Bohlen betont: „Ich habe ein tolles Team, das muss ich sagen.“ Sein Fazit für die nächsten Schritte: „Der allgemeine Trugschluss ist, dass es bei Digitalisierung um Technologie geht. Digitalisierung ist zu 80 Prozent Organisation, Umdenken, Kulturwandel. Das muss für Kommunen gut handhabbar sein.“ Mit Blick auf Flächenländer ergänzt er: „In Schleswig-Holstein fördern wir die Vielfalt der Kommunen, das heißt auch, dass es sehr kleine Verwaltungen gibt. Deshalb kann Digitalisierung nur als Gemeinschaftsaufgabe funktionieren, und das muss gesteuert werden.“

Dr. Bohlen, Stadtrat Stadt Pinneberg

Stefan Bohlen, erster Stadtrat der Stadt Pinneberg.